Braucht es tatsächlich einen konkreten Tag, um auf das seit 08. November 2000 verankerte Recht auf gewaltfreie Erziehung aufmerksam zu machen und es umzusetzen? Gibt es nicht so viele Bücher, Wissen und kompetente Erwachsene rund um das Thema Gewaltfreiheit?
Der § 1631 des BGB formuliert: „Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“ Damit ist aus meiner Sicht alles klar und dennoch gibt es täglich Berichte über Gewalt, die nicht sein darf. Gewalt hat viele Gesichter. Kinder und Jugendliche erleiden körperliche, seelische oder sexualisierte Gewalt, ob im familiären, sozialen oder institutionellen Kontext. Auch Überbehütung, Vernachlässigung, Ignoranz, Schweigen und entzogene Unterstützung sind Gewaltformen.
Der Satz: „Ein Klaps auf die Windel hat noch niemandem geschadet“ begegnete mir direkt erst vor wenigen Wochen. Die Beispiele aus der Gegenwart kann ich fortsetzen: „Wenn ich lieb bin, kuschelt die Mama mit mir…“ (3-jähriges Kind) oder „Du brauchst jetzt nicht schon wieder rumheulen und wenn du nicht sofort aufhörst, kannst du dein Video vergessen…“ (Großeltern zum Enkel).
Psychische Gewalt gegen Kinder ist in ihrer Komplexität und Auswirkungen auf Kinder kaum im gesellschaftlichen Bewusstsein verankert. Oft wird bagatellisiert oder gar nicht wahrgenommen, wie Kinder mit Worten (Adultismus) seelisch verletzt werden. Deshalb gibt es die vom Kinderschutzbund initiierte Kampagne „Gewalt ist mehr als du denkst“. Junge Eltern nehmen sich zwar vor, nicht so zu erziehen, wie ihre eigenen Eltern oder Großeltern, bei denen blinder Gehorsam, Unterordnung und Strafen zum üblichen Erziehungskonzept gehörten. Doch der Alltag mit Kindern ist anstrengend, kann in Phasen zum „Extremsport“ mutieren und es klafft zwischen Anspruch, Theorie, Willen, Erziehungsvorstellungen, den individuellen Besonderheiten und den verschiedenen Bedürfnissen.
Mit dem „Tag der gewaltfreien Erziehung“ können Menschen stärker sensibilisiert werden, kann der Zivilcourage mehr Raum gegeben werden und es können wachsam Signale gesetzt werden, welche Unterstützungs- und Stärkungsmöglichkeiten in unserer Gesellschaft bereits etabliert sind. Andererseits kann gerade auch so ein Tag dazu beitragen, Politiker zu informieren, was Eltern und andere am Heranwachsen von Kindern beteiligte Personen brauchen, um angesichts der vielfältigen Risikofaktoren gewaltfreie Erziehung tagtäglich lebendig zu gestalten.
Die ehrenamtlichen Berater*innen vom Kinder-, Jugend- und Elterntelefon erfahren unmittelbar von den Anrufenden, welches Gewaltpotential erlebt wird. Im vergangenen Jahr gab es am Kinder- und Jugendtelefon Dresden mehr als 150 Gespräche zum Thema „Gewalt“, am häufigsten wurde körperliche Gewalt angesprochen. Psychische Gewalt offenbart sich in dem Einstiegssatz einer 14-jährigen Anruferin: „Meine Mutter sagt so oft – eigentlich täglich zu mir, dass aus mir nichts wird, wenn ich so weiter mache, doch was soll ich denn machen, ich verstehe diese doofe Mathematik nicht“.
Am Elterntelefon wurden in 20 % aller geführten Beratungsgespräche Gewalt thematisiert:
Diese Erfahrungen und Zahlen belegen eindeutig, da ist noch viel in unserer Gegenwart zu tun, damit gewaltfreie Erziehung für jedes Kind Alltag wird und ist. Deshalb lautet die Antwort auf die Frage, ob es tatsächlich den „Tag der gewaltfreien Erziehung“ braucht: Ja! Gemeinsam, also jede/ jeder in seinem Umfeld kann dazu beitragen, dass unsere Kinder geschützt, wohlbehalten und gesund aufwachsen können.
Das Ehrenamtsteam der Berater*innen vom Dresdner Kinder- und Jugendtelefon und Elterntelefon verstehen sich als ein „Baustein“ im gesellschaftlichen Unterstützungs- und Hilfesystem. Wir hören zu, bieten emotionale Entlastung, bestärken dort, wo es erforderlich ist, positionieren uns sensibel oder gegebenenfalls klar gegen Gewalt und erarbeiten, wenn gewünscht, gemeinsam mit den Anrufenden konkrete, nächste Schritte. Wir sind Teil des Netzwerkes „Nummer gegen Kummer“.